9.6.-10.6.2006 - 48.  Bieler Lauftage

Meine 100km von Biel - mit symbolischem Ausgang!

„Die Grenzen sind dort, wo die Vorstellungskraft endet“. Der Wunsch, die 100 km in Biel zu laufen, war in mir erstmals im Jahr 2003 beim New York Marathon entstanden, als ich das erste Mal von einer Amerikanerin in der Anmeldeschlange erfahren habe, dass sie >diesen Marathon nur zum Training laufe, um eine Woche später die 100km von Chicago zu laufen ...<.  Seither hatte ich einiges dazu gelesen und mich im Internet ausführlich über Trainingsmethoden informiert ... Doch zwei Wochen nach meinem ersten Ultramarathon am Rennsteig (knapp 73km) grübelte ich darüber nach, ob ich nun auch noch die 100km von Biel wagen sollte: Warum nur, willst Du Dir das noch mal antun ? Kannst Du nicht genug kriegen ? Doch die Gründe lagen für mich auf der Hand:

  1. Noch nie war ich so gut vorbereitet (2.700km mit ca. 125km /Woche bis Ende Mai)
  2. Nach dem Rennsteiglauf hatte ich eine phänomenal kurze Erholungszeit
  3. Nur in diesem Jahr stand mein Sohn JOHANNES als Fahrradbegleiter zur Verfügung
  4. Mein sportlicher Berater SVEN HEUPEL riet mir nach dem Check meiner Trainingsdaten nicht ab
  5. JUTTA JÖHRING hatte mir alle logistische Hilfe und Beratung angeboten ...

Na ja und der letzte Grund, war ein sehr persönlicher: Ich wollte mir ein symbolisches Geschenk machen, denn am 9./10.Juni wechselte ich vom 50. ins 51. Lebensjahr und konnte in meinen 51. Geburtstag hineinlaufen ... 50 + 51 = 101 ! Und im Ziel lief ich in den 101.KM hinein ...

Gefühl und Verstand zusammen machen die richtige Mischung an Motivation aus und so meldete ich mich kurz entschlossen noch am 7. Juni 2006 zu meinem ersten 100km Lauf an – und das bei einem richtigen >Klassiker<.
Der Lauf wurde vor 48 Jahren ursprünglich als Nachtmarsch mit 30kg Gepäck für die schweizerischen Rekruten als große Bewährungsprobe eingeführt ... erst später hat sich die internationale Laufszene der Veranstaltung bemächtigt und heute werden eine Vielzahl von Wettbewerben (vom Halbmarathon über Teamwettbewerbe) bis hin zur Königsdisziplin dem >100km Lauf< angeboten.

Training & Vorbereitung & Praktisches

In diesem Jahr hatte ich außerdem im Winter den Marathon in Appeldorn in ruhigem Tempo und im April den Hamburg Marathon in hohem Tempo und dazu den Rennsteig gelaufen – darüber hinaus ca. 125km / Woche mit einer Summe von ca. 2.700km bis zur 23. Kalenderwoche. Training im hügeligen Gelände und lange Einheiten bis 30km gehörten ebenso dazu wie die Back-to-Back Einheiten am Samstag abends und Sonntag morgens ...

Um keinen Stress zu haben, buchten wir mit der Bundesbahn und Fahrradabteil – problemlos: um 8.00 Uhr ab ESSEN mit dem EuroCity, ca. 15.00 Ankunft in BIEL dazwischen einmal umsteigen in BASEL um ca. 13.40 Uhr – Johannes und ich kamen ganz entspannt in BIEL an. Mit dem Bus LINIE 1 gleich gegenüber dem Bahnhof ging es in 20 – 25 Minuten durch die lang gestreckte Innenstadt in den Außenbezirk und zum EISSTADION in der Längisgasse.  Dort holten wir um 16.00 Uhr unsere Startunterlagen ab und besorgten für Johannes als Fahrradbegleiter für 10 Euro sein Startemblem „COACH“, das er stolz an seinem Trikot fixierte. Ich bekam einen eigenen CHIP, der nach dem Rennen wieder zurückgegeben werden musste, bei Vergessen war eine Gebühr von 50.00 Schweizer Franken fällig – der Chip gilt aber nur in der Schweiz, geschickt !!

Im Eisstadion herrschte eine ruhige und gelassene Atmosphäre, wir trafen Freunde und Bekannte. Am Ende der Halle war eine große Fernsehleinwand aufgebaut worden, um am Abend das Eröffnungsspiel der WM2006 zu übertragen. Das kleine Zelt wurde aufgebaut – und ein paar Stunden in Ruhe zugebracht – das Wetter war warm und eine leichte Brise wehte von den Bergen herunter – ideale Bedingungen. Um 19.00 Uhr nahmen wir noch eine große Portion Spaghetti mit Tomatensauce und Parmesankäse und reichlich Apfelschorle zu uns. Die üblichen Vorbereitungen: Brustwarzen abkleben, Achselhöhlen und Schritt dick mit Vaseline bzw. Hirschtalg einreiben, die Füße ebenfalls ... der Gurt mit den zwei Trinkflaschen mit aufgelöstem Power-Gel als Notfall für zwischendrin. Auch drei Tempo-Taschentücher ebenfalls mit Vaseline für den Schritt kamen mit. Da die Wettervorhersage bis zu 7°C Nachttemperaturen angesagt hatte, entschied ich mich für ein 2-Lagenstrategie. Ein Halbärmel-Netzshirt von Odlo als Unterlage, darüber das eigentliche Laufshirt, das Trikot – hell gelb für die Nacht und dazu ein gelbes Stirnband.. Als Hose wählte ich die über das Knie reichende Lex-Funktionshose. JOHANNES packte seinen Rucksack ebenfalls – und meine Notfall-Ausrüstung : Plastikplane falls Niederschlag oder Kälte mich beeinträchtigen würden, ein zusätzliches Paar Socken und ein Trikot, falls es zu kalt oder auch zu nass würde ... und vor allem unsere speziellen TASCHENLAMPEN für die besonders dunklen Strecken ...  

Um 21.30 musste sich Johannes verabschieden weil er schon 30 Minuten vorher in einem Konvoi von ca. 600 Fahrrädern bis KM 22 nach Lyss geleitet wurde. Dort wollten wir uns nach ca. 2 Stunden treffen, denn  das war meine optimistische Zeitkalkulation. Ich wollte mit einer Geschwindigkeit von 5:30 – 6:00 Min pro KM die Strecke möglichst gleichmäßig durchlaufen – Zielprojektion zwischen 9:10 und 10:00 Stunden. >Hauptsache unter 10 Stunden< war der Cantus Firmus den mir Jutta Jöhring auf den Weg mitgegeben hatte... und das schien wohl schon ein großes Ziel zu sein, an dem sogar schon viele erfahrene ULTRA-Marathonis in Biel gescheitert sind. Hatte ich mir möglicherweise wohl doch etwas zu viel vorgenommen ?? DURCHKOMMEN war sicher das wichtigste Ziel bei meinem ersten 100er und alle anderen Ziele waren dagegen nachrangig !

Der Start

Inzwischen war die Dämmerung hereingebrochen, der fas volle Mond stand halbhoch am Himmel und es hatte angenehme 12 – 14 °C.  Punkt 22.00 fiel der Startschuss – ca. 1.700 Läufer setzten sich nun beim 48. Bieler 100km-Lauf langsam in Bewegung – wie viele davon wohl ankommen würden ? fragte ich mich noch beim Start. Die Statistik sagte später:  1.425 (1.229 Männer und 196 Frauen).

Ich startete relativ weit vorne und bemerkte zu meinem großen Erstaunen, mit welchem >>Affenzahn<< viele Läufer diesen Lauf anfingen, wohl angetrieben von der fantastischen  Zuschauerkulisse, die die Strassen in die Innenstadt säumten und eine tolle Stimmung erzeugten. Gänsehaut, Abschied bis zum nächsten Morgen !

Erster Laufabschnitt (bis AARBERG, 18km)

Die ersten 5 Kilometer führen noch durch die menschengefüllten Strassen der STADT BIEL, danach schwingt sich der Weg Richtung Süden langsam nach oben in die Außenbezirke und zur Ortschaft BRÜGG. Am Ende des Anstieges wartet bereits die erste Verpflegungsstation – aber ich hatte noch keine Lust: es stimmte etwas nicht mit meinem Bauch, ich hatte das Gefühl, möglichst bald eine Toilette aufsuchen zu müssen – was aber ja nicht geht im Vorstadtviertel. Der Kopf war noch nicht frei und die Beine liefen nur sehr schleppend. Obwohl ich einen 5:10 Schnitt lief, wurde ich von großen Pulks von Läufern überholt ... Ich schätzte etwas konsterniert mindestens 300 – 400 Läufer vor mir ein.

Nach einem kleinen Bergabhang bogen wir dann erstmals in einen einen Feldweg ein. Dort bekam ich endlich die Gelegenheit, mich etwas zu erleichtern ... Plötzlich wurde ich von hinten angetippt: >>Hallo, na bist Du auch wieder dabei ?!<< begrüßte mich Bertram Wagenblatt, ein ULTRA-Läufer, der mir schon am Rennsteig auf der Strecke begegnet war – Das ist ein gutes Omen, dachte ich mir und schon entspann sich ein kleiner Dialog, der wunderbar ablenkte von meinem eigenen suboptimalen Befinden. Später stießen wir noch auf Ilona Schneider aus Bonn und ich erfuhr so nebenbei noch einiges von der Politik im DLV und der ULTRA-Szene. Es tat so gut, nicht übers sich nachzudenken, vor allem, wenn es zwickt und zwackt. Danke Bertram, danke Ilona !

Inzwischen war es richtig Nacht geworden. Auf  flachen Kies- und Feldwegen und unter dem >>Mond- und Sternenzelt<< zog sich der nun immer länger hin gestreckte Zug der Läufer durch die Nacht in Richtung der Ortschaft AARBERG hin. In der Ferne leuchten die Dörfer an den Berghängen und am Himmel konnte ich die großen Sternbilder ausmachen: den großen Wagen, die Cassiopeia etc. Langsam gewann ich so etwas wie einen gleichmäßigen Laufrhythmus, was vor allem mit Bertram zusammenhing. Er wollte auch im Bereich 9:00 Stunden laufen, was einem Schnitt von 5:24 pro KM entsprach. Nach 10 KM (ca. 54:00 min.) lagen wir beide voll im Plan. Ab KM 15 hatte sich das Läuferfeld so weit auseinander gezogen, dass Überholvorgänge immer seltener wurden. Langsam begannen wir sogar einige Läufer zu überholen ...

Zweiter Laufabschnitt (bis OBERRAMSERN, 38km)

Bei 18KM hatten ich zusammen mit Bertram die Ortschaft AARBERG erreicht. Es ging auf Mitternacht zu, aber auf den Strassen herrschte noch immer eine Riesenstimmung; in den Eingängen der Höfe leuchteten Fackeln, die Leute saßen auf Bierbänken an der Strasse und feuerten uns an, besonders auf der schönen alten Holzbrücke und am schönen alten Marktplatz, wo wir die nächste Verpflegungsstation erreichten. Das nächste Ziel war das Dorf LYSS etwa 4 km entfernt, wo mich JOHANNES erwartete. Er wartete inmitten eines riesigen Pulks von anderen Radlern, die hier den Weg säumten, um ihre Läufer zu entdecken. Schnell hatte er mich erkannt und schloss sich Bertram und mir an. Fortan bot sich ein ganz anderes Bild. Die Rücklichter der Fahrräder wiesen den Weg blinkend oder leicht zitternd je nach Untergrund. Als wir die Ortschaft LYSS gerade verließen, schlug die Turmuhr gerade Mittenacht : 10. Juni , mein 51. Geburtstag hatte begonnen – wenn alles gut ging hatte ich noch 7 – 8 Stunden zu laufen. Kurz stimmten Bertram, ich und Johannes ein >>Happy Birthday<, doch dann  konzentrierten wir uns wieder aufs Laufen ... 

Wir zogen die würzige Nachtluft ein. Durch weite Wiesenauen, über holperige Feldwege, durch kleine Wälder führte der Weg. Unsere Lampen wiesen uns den Weg, wenn der Mond durch die Bäume verdeckt wurde. Bei KM 33 erreichten wir das kleines Nest  SCHEUNENBERG – selbst da noch Begeisterung, Fackeln an der Strasse und eine weitere Verpflegungsstation. Die Leute applaudierten und feierten – würziger Duft von Grillfleisch lag in der Luft, und immer wieder streckten uns Kinder ihre kleinen Hände zum Abklatschen entgegen.


Inzwischen lief es wesentlich besser bei mir, nachdem ich noch zweimal der Verdauung nachgeben musste. Immer wieder konnte ich dann auf Bertram aufschließen, der auch ohne Worte, schweigend, für mich ein guter Laufgenosse war, weil unsere Schritte gut miteinander harmonierten ... und unsere Ziele auch: wir begannen nun gerade an den kleinen Steigungen aber auch auf gerader Strecke einzelne Läufer und Läufergruppen zu überholen. Das Blatt hatte sich eindeutig gewendet ...   im Ort OBERRAMSERN bei km 38 endete die erste Etappe des gleichzeitig stattfindenden Stafetten- und der Marathonlauf; deshalb wurde auch für die 100 km-Läufer eine elektronische Zwischenzeit genommen: für mich waren es 3:22:27 Sekunden, ein Schnitt von 5:20 pro KM – ich lag also gut in der Zeit und in meiner Erwartung !

Dritter Laufabschnitt (bis KIRCHBERG, 55km)

Die Strecke war ab KM 20 ausreichend gut markiert, alle 5 km stand eine (zu kleine) Tafel, auf der man die zurückgelegten Kilometer ablesen konnte. Ab KM 40 merkte ich, dass Bertram etwas Schwierigkeiten bekam – ich musste weiter, wenn ich im Rhythmus bleiben wollte: Schade, ich wäre noch gerne weiter gemeinsam gelaufen. Ich hoffte für die nächsten KM, dass er doch wieder aufschließen könnte, zumal mich meine Verdauung ein fünftes Mal zu Pause zwang – jedes Mal 1 – 2 Minuten, das konnte sich ganz schön summieren.  Ich hatte aber wenigstens noch Johannes bei mir, der mir wieder half in den Laufrhythmus zu gelangen und über das kleine MP3-Radio mit frischen und ermunternden Melodien einige Kurzweil bot.

Bei KM 43 erreichten wir ETZELKOFEN, bei KM 48km den Ort JEGENSTORF, wieder mit kleinen Fackeln beleuchtet und einigen Menschen am Straßenrand. Es wurde nun zunehmend kühler, ich verstärkte bewusst meinen Armzug, um die müder werdenden Oberschenkel etwas anzutreiben. Dazu stellte ich mir immer wieder Lieder und Texte vor. Ich versuchte bewusst, alle meine Sinne wach zu halten – z.B. Gerüche wahr zu nehmen: Das Holz im Wald, das Getreide und die Gräser auf den Feldern, Bauernhöfe, Vieh etc., oder auch möglichst alle Geräusche zu hören: die Frösche im Teich, das Miauen einer Katze, das Bellen von Hunden, das Rauschen des Windes im Weizenfeld und das Vorbeischwirren von Fledermäusen im Wald. Eine weitere Gedankenvariante hatte ich mir auch zurechtgelegt : ich wanderte während der 100km durch meine Woche, wobei 14 km einem Tag und 1 Woche 7 x 14 km = 98km entsprachen. Die letzten 2 km waren ohnehin Finish. Aktuell war ich in Gedanken also am Donnerstag angelangt und überlegte mir das Tagesprogramm. Diese gedankliche und äußere Ablenkung vertrieb mir die Zeit und ließ die KM insgesamt viel schneller vorbeiziehen.

Bis KM 55 blieb mein Lauftempo noch einigermaßen entspannt, wenngleich ich öfters meinen Armzug betonen musste, um mich innerlich von den >müden Beinen< abzulenken. Darüber hinaus wurde es allmählich immer einsamer um uns herum: seit KM 20 hatte mich kein einziger Läufer mehr überholt – Ausnahme waren drei Spitzenläufer des Marathonfeldes und einzelne Stafetten-Läufer, die relativ schnell an uns vorbeizogen, doch so markiert waren, das sie uns  >>langsame ULTRAs << nicht zu sehr mit ihrer Frische erschrecken konnten. Johannes war ein aufmerksamer Begleiter, der vor mir die Wege erkundigte und mich auf herunterhängende Blätter, Wurzeln auf dem Weg und sonstige >Stolpersteine<  aufmerksam machte. An bestimmten Stellen nahm er kleine Video- und Sprechsequenzen von meinen Eindrücken auf. Das war zum Teil recht unterhaltsam ...   

Bei KM 55 erreichten wir KIRCHBERG und damit die letzte Verpflegungsstation vor dem sehr berüchtigten EMMENDAMM (in Läuferkreisen der >Ho-Tschi-Min-Pfad<). An der Verpflegungsstation langte ich deshalb nochmals kräftig zu – dabei übte ich meist folgendes Zeremoniell aus: Erstmal richtig zum stehen kommen; dann ein isotonisches Getränk oder Wasser, dann folgte ein >Wachmacher-Tee< und schließlich die Coca-Cola, auf die ich mich besonders freute. Außerdem tat es mir gut, während des Laufens auf etwas Brot herumzukauen, weshalb ich mir einen kleinen Vorrat >auf die Hand< mitnahm. Die Verpflegung war ansonsten perfekt: Für alles war gesorgt, was das Läuferherz oder –die Läuferbeine so mögen : neben Wasser, Iso, Tee und Cola auch Energieriegel, Power-Gel, Suppenbrühe, Brot, Gebäck, Bananen, Orangen – verhungern oder verdursten musste wirklich niemand ...

Ich konnte zu diesem Zeitpunkt sehr zufrieden sein: die elektronische Zwischenzeit war zeigte genau 5:00:17 in Kirchberg an; das bedeutete ein Schnitt von 5:28 pro KM – ich lag also noch gut in der Zeit und sogar knapp unterhalb meiner optimistischen Erwartung ! Ich verabschiedete mich noch kurz von meinem Fahrradbegleiter Johannes und entrückte in die Dunkelheit ...

Vierter Laufabschnitt (bis BIBERN, 77km)

... es war kurz nach 3 Uhr nachts, als ich den EMMENDAMM betrat, eigentlich endgültig Zeit ins Bett zu gehen.  Doch gerade jetzt durfte ich für ca. 10km nicht unaufmerksam sein. Es begann nun der schwierigste Abschnitt des gesamten Laufes: zum einen war es stockdunkel, weil das dichte Laub der Bäume nun kein Mondlicht mehr hindurch ließ; das Blattwerk der Bäume hing teilweise bis in Gesichtshöhe herab, was zu plötzlichen Ausweich- und Duckmanövern führte. Eine ganz besondere Herausforderung war der Boden: teils schotterig, teils steinig und teils von verstecktem Wurzelwerk durchsetzt wölbte bzw. neigte sich der Weg von seiner Mitte zu den Außenkanten um mindestens 20 – 40cm nach unten, von dort fiel der Damm beidseits steil für 2 – 3 Meter ab. Stürze konnten also recht gefährlich sein, was auch einmal ca. 100 Meter vor mir geschah und zu einer kleinen Rettungsaktion geriet. Da gerade an der Außenkante  der Weg noch einigermaßen glatt vom Boden her war, bemühten sich viele Läufer genau dort zu laufen. Aber wehe, wenn man ins Straucheln geriet. ...

Ich schaltete nun meine Kopflampe auf höchste Stufe und begann meinen >Husarenritt< auf dem Emmendamm. Ich hob meine Oberschenkel stark an und versuchte vor allem im Vorfußbereich zu laufen. Bald erreichte ich andere Läufergruppen, die zum Teil (unbeleuchtet !)  oder im Scheinwerferlicht von anderen Läufern ängstlicher oder vorsichtiger anliefen. Auf die Entfernung hin konnte ich zahlreiche huschende Scheinwerferkegel in der Dunkelheit ausmachen. Ich nahm mir vor einen um den anderen zu erreichen und wenn möglich zu überholen. Mit der Zeit aber begannen meine Oberschenkel zu schmerzen: immer wieder Schläge des unruhigen Bodens,  ständig anderes Aufkommen, gelegentlich ein voller Schlag gegen den Fuß bei unerwarteten Steinen oder Wurzeln trotz Stirnlampenbeleuchtung. Meine Erfahrung mit nächtlichen Läufen in der Winterzeit und auf unruhigem Waldboden half mir aber sehr. In diesem Abschnitt allein überholte ich 14 andere Läufer – nur 1 Läufer überholte mich: ein kurzer Dialog entspann sich mit ihm; er wollte 9:00 Stunden erreichen und meinte, dass er das noch erreichen könnte. Dann war er auch schon vorbei. Meine Muskeln begannen nun mehr und mehr zu schmerzen, Verspannungen in Schulter und Nacken kamen hinzu : womit sollte ich mich aufbauen ? Laut summte ich mir Lieder vor oder konzentrierte mich ausschließlich auf den Armzug ... 

10km können sehr lang sein ... ein Kraftwerk tauchte auf und ließ gerade Dampf ab, eine unheimliche Szene: wie große Wolkengeister schwebten die Dampfwolken über den Wipfeln der Bäume. Ein weiterer Stafettenläufer pirschte an mir vorbei und ich wagte, ihn zu fragen, wie viele KM es noch seien bis zum Ende. Er kannte wohl die Strecke gut und meinte nur ganz kurz „3 Kilometer“ – nur noch maximal 18 Minuten dachte ich, und zog mit frischer Kraft wieder an – was so eine kurze Begegnung doch ausmachen kann ... Das KM-Schild 65 war wie ein Morgengruß ! Am Ende der Nacht kommt ja die Zeit der >blauen Minute<, wo alles schweigt und atemlos verharrt, bevor der Tag beginnt. Ab jetzt konnte es ja nur noch heller werden – die Nacht war besiegt und der Emmendamm ebenfalls bezwungen ! Aus Haydns Schöpfung klang es in mir: >>Die Nacht die verschwand, der goldene Tag ...!“

Fröhlich gesellt sich dann Johannes als Fahrradbegleiter ab KM65 wieder zu mir. Er erzählt mir von seiner abenteuerlichen Suche nach dem Weg durch kleine Feld- und Wiesenwege über UTZENSTORF und WILER bis kurz vor GERLAFINGEN – seine starke Stirnlampe hat ihm dabei sehr geholfen ... Es war kurz nach 4.00 Uhr, als die Vögel zu singen begannen. Selten sind mir diese ersten Töne des frischen Tages kostbarer vorgekommen wie an diesem 10. Juni 2006. Ich hatte Geburtstag – in Gedanken zogen die 50 Jahre meines Lebens und viele Menschen in meinem Leben vor meinem geistigen Auge dahin und ich lief und lief und lief ... 

Es wurde der schönste Abschnitt des Laufes, weil das Morgenrot den Himmel und die Natur prächtig einfärbte und weil der Boden endlich wieder glatt war. Die müden Beine mussten nicht mehr höher gehoben werden, sondern konnten über die Hüften flach nach vorne geschoben werden. Trotz dumpfer Schmerzen in den Oberschenkeln gelang es mir wieder >etwas Zug in meine Schritte< zu bekommen. Vor und hinter mir war für 200 - 300 Meter kein Läufer mehr zu sehen.  Zweimal noch plagt mich die Verdauung – wie oft denn noch, fragte ich mich ?! Es dürften wohl 6 – 8 Pausen gewesen sein, die mich jedes Mal mindestens 1 – 2 Minuten gekostet haben. Vor allem nach 70KM: das Hinhocken fällt schwer, das Halten der Sitzposition noch schwerer und das Wiederaufrichten geht nur mit Abstützung durch die Arme ... und dann muss man erst wieder langsam in den eigenen Laufrhythmus einpendeln.

 

 

Die KM-Schilder dehnten sich psychologisch jetzt immer weiter auseinander als noch zu Beginn des Laufes, doch irgendwann erschienen auch die 70 und dann die 75 KM-Anzeigen. Bei 76KM erreichten wir dann die letzte Zeitnahme bei der Ortschaft BIBERN: die Zwischenzeit dort betrug 6:55:04, es war unglaublich, aber mein Schnitt betrug weiter 5:28 pro KM ! Wie hatte Bertram Wagenblatt mir gesagt: der Lauf entscheidet sich erst nach 70 KM – nur noch 24km lagen vor mir ... das sollte doch noch gehen, oder ??

Fünfter Laufabschnitt (bis BÜREN, 90km)

Beschwingt von dieser neuen Zwischenzeit begann ich nun im Kopf nachzurechnen : 24 KM in 2 Stunden !? – dann könnte ich vielleicht sogar doch noch unter 9 Stunden laufen ? Das war verwegen, denn dann müsste ich ab sofort eine 5:10 pro KM schaffen. Allerdings versuchte ich nun mein Bestes zu geben und legte einen Zahn zu ...

Bergab aber bekam ich starke Schmerzen in den Oberschenkeln. Ich musste bremsen und das tat noch mehr weh. Da fiel mir ein, dass ich vor einiger Zeit auch das Rückwärtslaufen geübt hatte ... ich drehte mich um, und siehe da, es war möglich !! Da ich allein auf weiter Strecke war, konnte Johannes die eine Straßenseite auf dem Fahrrad und ich die andere Seite >im Rückwärtsgang< verwenden, die weiße Mittellinie diente als Orientierung – so überstand ich im Vorfußgang auf ca. 1km das gröbste Gefälle der Strasse, bis wir bei der Ortschaft ARCH den NIDAU-BÜREN-KANAL bzw. das wunderschöne Flusstal der AARE erreichten.  Selbst dort, im frühen Morgengrauen, standen schon oder noch Menschen und feuerten uns an. Auf die lockere Frage: >> Seid ihr schon wieder oder immer noch wach ... ? << ernteten Johannes und ich jeweils ein belustigtes Gelächter ! ... 

Landschaftlich war der Lauf an der AARE ein bemerkenswerter Abschnitt: rechts die Wasserstrasse, auf der sich das Morgenlicht spiegelte, hohe und niedrige Bäume säumten das Ufer und parallel dazu verlief der Laufweg auf Feld- und  Wiesenwegen. Die Sicht war gut, so dass ich drei bis vier Läufer, z.T. mit Begleitfahrzeug in 80 bis 300 Meter Entfernung vor mir ausmachen konnte. Das war eine gute Orientierung. Mit verstärktem Armeinsatz >zog ich mich förmlich an die Vorauslaufenden  heran<. Der weicher Wiesen- und Schotterboden schmerzte die Beine viel weniger ... Und das Gefühl, noch überholen zu können, verhalf mir zu ungeahnten neuen Kräften – ich überholte nach und nach 5 weitere Läufer bis wir den Ort BÜREN AN DER AARE erreichten.  In diesem Abschnitt erreichte ich sogar noch Zeiten von 5:10 bis 5:25 pro KM ...

Die letzten 10 Kilometer (bis BIEL, 100km)

Dennoch, trotz allem Kämpfen : es reichte nicht ... Das absolute TRAUMZIEL von 9 STUNDEN wurde schließlich vollends unerreichbar, als es ca. 1km nach  der Ortschaft Büren bergauf in Richtung LENGNAU ging.

Ich musste bei dieser flachen Steigung das erste Mal überhaupt gehen. Besondere Positionen waren m. E. keine mehr zu gewinnen ! Nach der Steigung ein letzter Ausflug in die Büsche, danach fiel es mir sehr sehr schwer, aus der Hocke zukommen und wieder Tritt zu fassen ... Die Beine waren jetzt so schwer wie Blei. Ein erster Läufer zog an mir vorbei - >100 Marathon Man < stand auf dem gelben T-Shirt ! Obwohl mein Puls nur ca. 135 – 140/ Minute betrug, war keine Temposteigerung mehr möglich, ich war am Limit und erstmals MÜDE !!. Ein weiterer Läufer mit weißem CAPPIE und Fahrradbegleitung kam hinter mir heran – für ca. 1 – 2km versuchte ich mich zu wehren, doch dann war mein Widerstand gebrochen und ich wurde passiert von dem jungen Mann, den ich zuvor an der AARE bereits überholt hatte ... Tiefpunkt ?! Es wurden die bisher längsten und schwersten 5KM meines Lebens, doch endlich stand auch das Schild 95KM da !

Nur noch 5km und fortan war jeder KM markiert ... eine feine Unterstützung für alle die, die wissen, dass mit >Schrittzählung< auch diese Strecke zu Null gebracht werden kann  -  500  Doppelschritte pro KM, also nur noch 2.500 bis zum Ziel und nach 50 Doppelschritten sind es bereits 2 Prozent ! Nach 1km hatte ich nicht 500 sondern nur 470 Schritte benötigt, und zwischen 96 und 97KM sogar nur 450 Schritte – wurde ich etwa wieder schneller ? Vor mir in 200 Meter Entfernung tauchte ein Läufer mit Fahrradbegleitung auf. Ich kam näher und näher und überholte ihn – 200 Meter weiter davor war der Läufer von vorhin mit Kappe. Bis KM 98 war ich auf 100 Meter an ihn herangekommen und bei KM 99 waren es nur noch 40 Meter. In der Entfernung konnte man bereits das Sportareal sehen und anfeuernde Stimmen und Lautsprecherfetzen vom Zielbereich hören ...

Warum jetzt noch mal schneller werden ? Ja, weil doch eine ZEIT von unter 9:10 Stunden möglich erschien, also die Zeit, die ich mir noch vor dem Lauf als sehr optimistische Vorgabe gemacht hatte. Jetzt nur kein Krampf !

Das Schild 99KM – nur noch 1000 Meter bis zum Ziel :  400 Meter vor dem Ziel hatte ich den Mann mit dem weißen CAPPIE wieder erreicht; kaum Gegenwehr, ich flog vorbei dem Ziel entgegen. Ein großes Spalier von jubelnden und fröhlichen Menschen begleitet uns nun bis ins Ziel. Kurz nach einer Kurve der große blaue Bogen über der Straße, ich reiße die Arme hoch und will schon in den Schritt zurückfallen, da brüllt mich ein Ordner und Johannes an: >> Mensch weiter ! Da vorne ist erst das ZIEL !<<. Gerade zeigt die Zeitnahme in 40 Metern: 9:09:00 – >> Los ! << ruft Johannes >> dann erreichst Du noch eine richtige SCHNAPSZAHL !<< Und ich spurte nochmals an – bei 9:09:09 glaube ich die Ziellinie zu überschreiten ! (später sind es offiziell 9 Stunden 9 Minuten und 10 Sekunden ). Ich drehe mich um, warte auf meinen Konkurrenten mit dem weißen CAPPIE und danke ihm für einen tollen Finish-Kampf !

Das Ziel (BIEL, und alles ab 100km)

Da ist es also : dieses ZIEL 100 KM ! – Johannes und ich strahlten uns an und fielen uns in die Arme: wir hatten es zusammen geschafft ! Auf den Bildern später werden wir beide ZUSAMMEN zu sehen sein – eine faire Geste für die tolle Leistung der Fahrradbegleiter ! Denn auch sie haben ja 100km in einer Nacht geschafft ! Von den Organisatoren wird im Ziel jeder einzeln mit Namen begrüßt – offiziell wird mir sogar zum Geburtstag gratuliert !! Eine Medaille um den Hals gehängt ... zunächst nur tief ein- und ausatmen, dann interessiere ich mich doch:

>> Hat es vielleicht zu einem Platz unter den ersten 100 – 150 Läufern gereicht ? << frage ich den Mann am Ziel, der die Kontrollscheine von den Startnummern aller Läufer auf einen langen Nagel aufspießt – Er fingert kurz durch die schmalen Streifen auf und ab und meint schließlich ganz kurz : >> Jo es kömmet scho hie ... <<

Nach dem Zieleinlauf konnte ich ganz normal gehen, die Sonne strahlte mir warm ins Gesicht ! Zunächst hatte ich keine Lust auf Dusche ! Nur der Wunsch etwas Warmes und  Weiches anziehen zu wollen, trieb mich vom Ziel weg zum Zeltplatz : denn es war noch richtig frisch !! Beim Zelt wechselte ich die Kleidung komplett aus – nebenan im Zelt rumorte es: JUTTA kam heraus und ihre Augen sagten bereits alles – sie konnte nicht zu Ende laufen. Dicke Tränen rollten ihr über die Wangen. In der Umarmung suchten und gaben wir erst mal etwas TROST – danach ihre Geschichte : Läuferisch gut, aber mental durch Sorgen und Gedanken geschwächt, hatte die Leistung allmählich nachgelassen und vor dem Emmendamm bei 55 KM versagt. Der Geist war einfach stärker als jede Physis gewesen – nur wenn beides zusammenkommt, kann so eine Herausforderung wie Biel gelingen.  Johannes und ich sahen uns an und uns wurde bewusst, welches Glück im Gelingen stecken kann !  

Resümee

Nach einer Stunde eilten wir zum Eisstadion zurück. Wir wollen duschen und frühstücken und uns außerdem das berühmte 100KM-FINISHER-SHIRT besorgen sowie den Leih-Chip zurückgeben.  Zufällig kamen wir dabei an einem Anschlagsbrett vorbei. >>Mensch, da sind ja auch schon die Ergebnisse von den Läufen ! << rief mir Johannes zu. Ungläubig trat ich näher. Ich versuchte mich zu orientieren, da auch die Ergebnisse vom Marathon und Stafettenlauf angeschlagen waren. Dann fand ich die 100KM-Liste der Männer. Bei Platz 150 tauchen Zeiten von 9:54 Stunden auf, bei Platz 100 sind es 9:36 Stunden – schließlich entdeckte ich mich völlig unerwartet viel weiter vorne auf PLATZ 51 gesamt (1425 Finisher)  und PLATZ 4 in M50 (204 Finisher) !!

PLATZ 51 !! ruft Johannes und bricht in schallendes Gelächter aus: >> Du bist heute 51 Jahre alt geworden !<<

Heinrich Seegenschmiedt